“Fühlen Sie mal” – Warum der Tastsinn ein wichtiger Bestandteil des integrierten multisensorischen Brandings ist.
Ein Interview mit Dr. Martin Grunwald, Psychologe an der Universität Leipzig und Leiter des Haptik-Forschungslabors am Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung, geführt von Karsten Klepper, Managing Partner bei RED Branding, am 16.November 2009.
K.Klepper: Herr Dr.Grunwald, Sie gehören zu den wenigen Wissenschaftlern, die sich im deutschsprachigen Raum mit der Erforschung des Tastsinns beschäftigen. Immer häufiger klopft die Wirtschaft bei Ihnen an. Warum diese Entwicklung?
Dr. Grunwald: Unternehmen entdecken zunehmend den Nutzen der Haptik. Produkte, die sich besser anfühlen als die der Konkurrenz, verkaufen sich auch besser. Früher hat man sich bei der Produktgestaltung bis in die achtziger Jahre des 20.Jahrhunderts fast ausschließlich an visuellen Effekten orientiert. Aspekte der Handhabung, der Ergonomie und Haptik spielten eher eine untergeordnete Rolle.
K.Klepper: Die Lehre vom Tastsinn kommt also gerade schwer in Mode.
Dr. Grunwald: Ja. Der Tastsinn ist einfach ein bislang kaum beachteter, zusätzlicher Kommunikationskanal. Und das stellt im Kommunikationszeitalter mit seinen notorisch verstopften Nachrichtenkanälen und reizüberfluteten Zeitgenossen eine Sensation dar. Anfassen, Tasten, Greifen: Die Bedeutung des haptischen Systems zeigt sich im Alltag. Es umfasst das Spüren der Materialien und die Handhabung von Formen. Und in einer optisch und akustisch überreizten Welt sind neue, unverbrauchte Reize hochwillkommen. Vor allem Autohersteller entdeckten diesen neuen Wahrnehmungskanal Anfang der 90er Jahre als Erste. Beinahe jeder Automobilhersteller führt heute in seinen Reihen eigene, so genannte Sensor-Labs, die sich auch mit der optimalen haptischen Gestaltung von Einzelteilen oder Gesamtkonfigurationen beschäftigen.
K.Klepper: Aber auch in anderen Branchen wird die Bedeutung haptischer Reize zunehmend erkannt.
Dr. Grundwald: Das sinnliche Tast-Erleben beschränkt sich keineswegs auf den Autofahrer. Viele Unternehmen überlassen bei dem Thema Haptik nichts dem Zufall und Haptik-Design ist schon längst kein Privileg mehr allein der Autoindustrie. So arbeiten wir zum Beispiel nicht nur für Autobauer, sondern zum Beispiel auch für Kosmetik- Textil- und Papierhersteller. Auch die Nahrungsmittelindustrie ist sehr aktiv: Nestlé zum Beispiel analysiert und optimiert das Beiß- und Knabbererlebnis beim Verputzen neuer Snacks und Kekse.
K.Klepper: So trivial es klingt, die Fingerkuppe kauft also mit. Wo kann man das besonders deutlich erkennen?
Dr. Grunwald: Auf jeder Automobilausstellung oder in einem Autohaus kann man erleben, wie wichtig dem Autofahrer seine Tasterfahrungen sind. Man untersucht das Fahrzeug mit den Händen, steigt ein, befühlt das Lenkrad, das Armaturenbrett, etc. Und nicht nur im Auto machen die Kunden Tasterfahrungen, auch beim Einkaufen. Sie gehen durch die Läden und fassen alles an, holen Produkte aus dem Regal, nehmen sie in die Hand. Der menschliche Alltag ist bei genauer Betrachtung ein Tastraum, der in hohem Maße unbewusst erkundet wird.
K.Klepper: Aber was kann der Käufer denn fühlen, was er nicht sehen kann?
Dr. Grunwald: Ein Beispiel: Wenn Sie heute einen neuen Laptop kaufen, dann werden Sie sich automatisch mit der Tastatur beschäftigen. Sie werden „Probeschreiben“ um sich – im wahrsten Sinne – einen Eindruck von den haptischen Qualitäten der Tastaturdynamik zu verschaffen. Kaum jemand wird beim Kauf eines neuen Gerätes dieser Art auf die Prüfung des haptischen Eindrucks verzichten wollen. Denn diese Eigenschaften sind optisch nun einmal nicht zu erfassen. Wie schon der Begriff „erfassen“ lehrt. In ähnlicher Weise werden auch Kleidungsstücke bewertet. Neben der ansprechenden Farbgestaltung muss auch der haptische Eindruck zu dem internen Konzept passen, dass der Käufer oder die Käuferin von dem Kleidungsstück erwartet. Und auch diese Materialeigenschaften können nur durch direkten Kontakt erfasst werden.
K.Klepper: Aber beim Kauf eines Produktes entscheidet doch nicht nur die haptische Erfahrung allein?
Dr.Grunwald: Nein, das sicherlich nicht. Beim Kauf eines Produktes entscheiden alle wahrgenommen Reize, also auch visuelle, akustische oder auch olfaktorische und gustatorische. Als Orientierungsreiz steht sicher an erster Stelle der visuelle Reiz. Denn der erste Eindruck, den ein Kunde gewinnt, ist meist visuell. Doch dann will er die durch das Gesehene ausgelösten Erwartungen durch aktives Fühlen bestätigen. Entspricht der haptische Eindruck den internen Erwartungen des Kunden und korrespondiert dieser mit den Informationen aus den anderen Sinneskanälen, so wird die Beurteilung der haptischen Dimension das Kaufverhalten maßgeblich entscheiden. So wird sich ein Kunde eher für ein Produkt entscheiden, bei dem optische Gestaltung und haptische Eigenschaften miteinander korrespondieren. Lockt jedoch ein Produkt durch exklusive Optik und bietet beim direkten Kontakt minderwertige haptische Eigenschaften, dann wird die Enttäuschung des Kunden zu erwarten sein.
K.Klepper: Nimmt der Kunde das bewusst war?
Dr. Grunwald: Ja und Nein, Fühlen spielt meist eine unbewusste Rolle, aber es hat einen großen Einfluss auf unseren Wahrnehmung- und Urteilsprozess. Oft fällt das erst auf, wenn etwas nicht so ist, wie es sein sollte: die lederartige Oberfläche kalt, oder die metallische Oberfläche elastisch. Die Empfindungen müssen stimmig, erwartungsgemäß und hinreichend typisch sein für das Produkt. Aber Irritationen können auch bewusst eingesetzt werden, um die Aufmerksamkeit des Kunden auf die haptischen Eigenschaften des Produktes zu lenken. Spätestens dann, bei einem Konflikt zwischen Erwartetem und Erhaltenem, werden wir uns eines Teils unserer Wahrnehmungsinhalte bewusst.
K.Klepper: Alle Sinnesreize stehen also in einem engen Zusammenhang und müssen aufeinander abgestimmt sein?
Dr. Grunwald: Sicher. Wenn man sich heute vom Markt mit seinen Produkten abheben möchte, muss man die Wirkmechanismen der Wahrnehmung auf Entscheidungsprozesse kennen und nutzen. Die Haptik zum Beispiel beeinflusst stark die optischen Produkteigenschaften. So sorgen spezielle Oberflächenstrukturen für unterschiedliche Mattigkeiten und Glanzgrade. Matte Oberflächen wirken für das Auge weich und fordern eher zum Hinfassen auf als glänzende, zu denen man mit einer gewissen Erfurcht Distanz wahrt. Das gilt jedoch nicht generell, sondern stets in spezifischen Kontexten. Zudem muss man Altersvariablen, Kulturaspekte und auch das Geschlecht der Kundengruppen beachten.
K.Klepper: Stichwort Branding. Wie kann die Haptik hier besser integriert werden?
Dr.Grunwald: Ziel der haptischen Markenbildung, des so genannten haptischen Brandings, ist es, haptische Gedächtnisinhalte mit bestimmten Markenprodukten zu verknüpfen, so dass sich mit den Erfahrungen der praktischen Handhabung eine relevante Konfiguration der Materialhaptik im Gedächtnis der Verbraucher etabliert. Im Prinzip ist es das Ziel, so genannte haptische Marken zu entwickeln, an die sich der Kunde ebenso erinnert wie an das Logo eines Produktes. Solche Entwicklungen müssen natürlich in einem integrierten und ganzheitlichen Prozess stattfinden, bei dem viele Details zu beachten sind. Ohne wissenschaftlich fundierte Analysen geht hier gar nichts. Entwicklungen aus „dem Bauch heraus“ sind viel zu risikoreich und lassen sich in ihrem prognostizierten Erfolg kaum vorhersagen. Um eine wirkungsvolle und starke haptische Marke zu entwickeln muss diese Zielvariable mit denen der anderen Sinne korrespondieren – nur so ist ein authentisches Branding möglich. Vor diesem Hintergrund ist das Konzept der Notasensorik eine multisensorisch ausgerichtete Markenbildung, in der alle Sinnessysteme Beachtung finden.